Die Pionierin der Gebärdensprachforschung
Penny Boyes Braem gilt als Begründerin der wissenschaftlichen Gebärdensprachforschung in der Schweiz. Im Interview erzählt sie von ihrer Arbeit und ihrer Faszination für Gebärdensprache.
Martina Raschle: Sie sind hörend, Ihre Muttersprache ist Englisch. Was hat Sie an der Gebärdensprache so fasziniert, dass Sie bis heute dabei geblieben sind?
Penny Boyes Braem: Durch Zufall wurde ich Englischlehrerin an einer Gehörlosenschule. Ich war von Anfang an fasziniert, dass die gebärdenden Schüler dort viel lebhafter kommunizierten als hörende Schüler. Wenn hörende Schüler am Montagmorgen von dem Fussballspiel am Wochenende erzählten, erfuhr ich das Resultat. Aber wenn gehörlose Schüler erzählten, sah ich die Wiese vor mir, ich spürte die Aufregung, verfolgte den Ball und sah ihn ins Tor fliegen. Nach dieser Form der Kommunikation wurde ich richtig süchtig.
Sprachen mit Wörterbüchern werden von der breiten Öffentlichkeit eher als ‹echte› Sprachen akzeptiert.
Penny Boyes Braem
Sie kamen 1974 von den USA in die Schweiz. Womit haben Sie Ihre Forschung hier begonnen?
Das Gebärden wurde damals eher als eine einfache Art der Kommunikation unter Gehörlosen betrachtet, nicht als ‹richtige› Sprache. Eines unserer frühesten Forschungsprojekte war deshalb der Aufbau einer Datenbank mit allen möglichen Informationen über Gebärden der Deutschschweizer Gebärdensprache DSGS, eine Art Lexikon. Das schien mir wichtig zu sein, da Sprachen mit Wörterbüchern von der breiten Öffentlichkeit eher als ‹echte› Sprachen akzeptiert werden.
Was ist der Hauptunterschied zwischen Gebärdensprachen und gesprochenen Sprachen?
Der Hauptunterschied liegt in der Art, wie die Sprachen wahrgenommen und produziert werden. In der visuellen Modalität der Gebärdensprache kann man verschiedene Arten von Botschaften gleichzeitig senden, mit Handbewegungen, Blicken, Körperhaltung, Mimik etc. Und man kann die Dreidimensionalität für sprachliche Zwecke nutzen: Begriffe werden im Raum identifiziert, und später kann man beim Gebärden wieder darauf zurückgreifen. Das ist in gesprochenen Sprachen unmöglich. Für uns Sprachwissenschaftler ist es faszinierend zu untersuchen, mit welchen Techniken kommunikative Funktionen in die beiden Sprach-Modalitäten übertragen werden.
Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Es hat sich gezeigt, dass in DSGS grosse, aggressive Bewegungen oft als unhöflich gelten. Zum Beispiel, wenn die Gebärde für ‹amerikanische Gebärdensprache› mit einer grossen, scharfen Bewegung nach unten gemacht wird, scheint dies für einige DSGS-Gebärdende angeberisch zu wirken.
Werden solche Resultate auch für andere Sprachen genutzt?
Das wird immer wichtiger. Seitdem Videoaufnahmen auch bei der Erforschung der gesprochenen Sprachen vermehrt eingesetzt werden, werden die nonverbalen Signale für linguistische Theorien wichtiger, also Blick, Gesichtsausdruck und Körperhaltung. In der Gebärdensprachforschung mussten wir diese Signale von Anfang an als ‹echten› Teil der Sprache betrachten. Davon können Forschende der gesprochenen Sprachen nun profitieren. Die Gebärdensprachforschung trägt also zum allgemeinen Verständnis der menschlichen Sprache bei.
Penny Boyes Braem leitet das Forschungszentrum für Gebärdensprache (FZG) in Basel. Das FZG wurde 1982 gegründet. Es führt eigene Forschungs- und Entwicklungsprojekte durch und arbeitet partnerschaftlich mit anderen Organisationen und akademischen Institutionen in der Schweiz und im Ausland zusammen.
2014 verlieh die Universität Zürich Penny Boyes Braem für ihre Verdienste in der Gebärdensprachforschung die Ehrendoktorwürde.
Publiziert am 30. März 2021