Gehörlose Frauen sind doppelt diskriminiert
Jutta Gstrein ist ehemalige Frauenbeauftragte des Gehörlosenbundes. Im Interview erklärt sie, warum gehörlose Frauen von doppelter Diskriminierung betroffen sind.
Barbara Lukesch: Als ehrenamtliche Frauenbeauftragte haben Sie Frauentage und Frauenseminare organisiert. Welche Ziele verfolgten Sie mit Ihrem Engagement?
Jutta Gstrein: Ich wollte erreichen, dass gehörlose Frauen ihre eigenen Bedürfnisse besser wahrnehmen und mitteilen können und stärker bei ihnen wichtigen Themen mitentscheiden. Die Frauen sollten sich ihrer Rolle bewusst werden, die von einer doppelten Diskriminierung geprägt ist: einerseits als Frau, andererseits als gehörlose Person.
Die #MeToo-Debatte haben viele gehörlose Frauen nur bruchstückhaft mitbekommen.
Wie zeigt sich diese doppelte Diskriminierung?
Viele gehörlose Frauen sind von einem grossen Informationsrückstand betroffen, der sie auch daran hindert, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dazu ist unser Wortschatz – da schliesse ich mich nicht aus – beschränkter und erschwert beispielsweise die Lektüre anspruchsvoller feministischer Texte. Von anderen gehörlosen Frauen weiss ich, dass sie die #MeToo-Debatte nur bruchstückhaft mitbekommen haben, weil es ihnen an Englischkenntnissen fehlt.
Geht es gehörlosen Männern besser?
Buben werden generell intensiver gefördert als Mädchen, die sich schneller mit einfachen, meist schlecht entlöhnten Berufen zufriedengeben. Das ist bei den Hörenden genauso wie bei den Gehörlosen.
Welche Situationen im Alltag sind auch für Sie als 62-jährige Frau mit viel Lebenserfahrung immer noch schwierig?
Nehmen Sie Kundgebungen oder Veranstaltungen. Ich habe mich immer darum bemüht, an feministischen Anlässen teilzunehmen. Aber es ist für mich immer noch mit einem Wahnsinnsaufwand verbunden, rechtzeitig zu planen und eine Gebärdensprachdolmetscherin zu bestellen, ohne die ich an einem solchen Anlass aufgeschmissen wäre. Was aber auch die Dolmetscherin nicht leisten kann, ist die Übersetzung all der Gespräche, die nach dem offiziellen Teil beim Apéro stattfinden. Dabei wird es ja erst dann meistens richtig spannend und interessant. Und davon bin ich weitgehend ausgeschlossen.
An wen soll sich eine gehörlose Frau, die sexuell missbraucht worden ist, wenden?
Sind gehörlose Frauen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, gefährdeter als hörende Frauen?
Ich glaube, der entscheidende Unterschied liegt wiederum im erschwerten Zugang zu Informationen. An wen soll sich eine gehörlose Frau, die sexuell missbraucht worden ist, wenden? Wo findet sie Hilfe? Sie wird die Leute schnell einmal mit ihrer Gehörlosigkeit überfordern. Anfangs neunziger Jahren, als es noch keine Gebärdensprachdolmetscherinnen gab, waren Beratungsstellen komplett überfordert mit uns. Da hat sich zum Glück einiges zu unserem Vorteil verändert.
Barbara Lukesch (Auszug aus dem Interview im Magazin Nr. 3 – 2020)
Die Botschaft der gehörlosen Frauen am Frauenstreik 2019:
«Wir streiken…
… weil wir gehörlosen Frauen von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind.
… weil wir gleiche Rechte für Frauen mit Beeinträchtigungen fordern.
… weil wir die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention fordern.
… weil wir Zugänglichkeit zur Bildung durch Gebärdensprache brauchen.
… weil wir ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben.
… weil wir ein Recht auf ein gewaltfreies Leben haben.
… weil unsere Gebärdensprache-Stimme gehört werden muss.»
Publiziert am 22. März 2021